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nzùmbe*

Litera[r]t | JanFeb 2024 | Seite 3

AG Literatur | gegründet 1996

wir haben das totenhemd gewechselt
unser körper ist
bleich und durchsichtig geblieben
schmutzig liegt er auf alter moräne
hat nur noch zehrgebiet
kein nährgebiet verleiht ihm neue kraft
manchmal blutet er
aus seinen wundmalen
muttermale
die sich verändert haben
sind zu bösartigen schwarzen geschwulsten geworden
jetzt streuen sie
metastasieren im ganzen körper
wir haben das totenhemd gewechselt
und immer noch kein grab gefunden

________________________
* Bantusprache Kimbundu in Nord-Angola, Bedeutung "Totengeist". Im Kreolischen in Haiti wurde es zu zonbi, unserem Wort Zombie.

 

ali

vor ein paar tagen traf ich ali
er ist eine klasse über mir
und stört sich nicht daran
dass ich kein kopftuch trage
und kurze haare habe
wir gingen ein stück an der traun entlang
und unterhielten uns gut
sein vater schlägt ihn manchmal noch
in zwei jahren macht ali abitur
danach will er literatur studieren
die lyrik interessiere ihn am meisten
er schreibe selbst gedichte sagte er
ali fragte mich
ob wir uns wieder treffen könnten
einen ausflug zum kloster seeon machen
ich liebe den frieden und die stille des ortes
oder auf die kampenwand wandern
ich interessiere mich auch sehr für literatur und lyrik
aber vielleicht studiere ich doch lieber umweltwissenschaften
sich mit ali zu unterhalten ist schön
aber ich glaube nicht dass er mein typ ist

koniec

uljana fiel mir um den hals und küsste
mich in fließendem polnisch ab und zu
gehen wir noch zusammen einen wodka
trinken bei andrzej um die ecke jacek
ist dort ewa jan und małgorzata kommen
meist später trinken wir über krakau nach
und spätestens bei morskie oko fangen wir an
zu heulen der winter war sehr kalt dort
das meerauge zugefroren mit einer dicken eisschicht
dann lesen wir uns eigene gedichte vor
und im bernsteinfarbenen kerzenlicht fangen
wir wieder an zu heulen alle wollen wir
nach paris
    nur weg hier
         aber am ende wollen wir
bleiben
    wo sonst kann man so viel
heulen

[gestern atmete ich schnee]

WORTSCHAU Literaturmagazin

Ausgabe Nr. 43, März 2024 (ISBN 978-3-944286-44-0)

gestern atmete ich schnee
heute das benzin im hof
und am abend deine haut

ein paar häuser weiter starb Juri
er brach schotter im steinbruch
für den straßenbau alles staubte

im sommer spielten wir kinder
die abenteuer von piraten nach
über die wir gelesen oder geschichten gehört hatten

Juri war unser anführer
du hattest nur augen für ihn
am nachmittag schwammen wir gemeinsam im see

ein lastwagen ratterte durchs dorf
eine brigade suchte deserteure
auf dem hügel wiegten sich die bäume im wind

deine haut riecht noch immer nach dem versteck der piraten

 

zu den stätten des geistes des gehens u. des todes

Der Umtrieb #4

Das Kulturmagazin zum Connecten, Hrsg. Jörg Armin Dreyer, Neuss

ich kam zu einer schädelstätte
dort lagen gedanken aufgebahrt
auf erdkrumen und gras
ruhte ich aus
trank vom mitgeführten wein
brach brot und tränkte es
in öl und aß davon
später
zog ich weiter und kam
an ein beinhaus
dort lagen bewegungen aufgebahrt
die schenkelknochen langbeiniger läufer
denen ich lange zeit gefolgt war

die mir vorausgegangen waren
den weg zu weisen
weiter
setzte ich mich auf ein hockergrab
knabberte pistazien mit den toten
spuckte mit ihnen um die wette

kirschkerne

 

tristezza

Der Umtrieb #4

Das Kulturmagazin zum Connecten, Hrsg. Jörg Armin Dreyer, Neuss

hochhäuser sind traurige gestalten
schutzlos
dem licht und dem wind ausgesetzt
fristen sie ein dasein
in ständiger angst

.

hämatologie

die blutung weitete sich aus
irgendetwas stimmte nicht
mit den thrombozyten der gerinnung
europa verblutete innerlich
die hämatologen und politiker waren machtlos

 

dialoge

Der Umtrieb #3

Das Kulturmagazin zum Connecten, Hrsg. Jörg Armin Dreyer, Neuss

sie antwortete
wann
ich sagte
bald
sie fragte
wozu
ich sagte
nichts

dann fuhr wind in die worte
vertrieb sie
bis weit hinaus aufs meer
hinter die horizontlinie
wo wolken und wasser ineinanderfließen
und stimmen verschwinden

 

[mutters hände]

Der Umtrieb #3

Das Kulturmagazin zum Connecten, Hrsg. Jörg Armin Dreyer, Neuss

mutters hände
zerteilten den fisch
stachen ihm die augen aus
dieselben hände die mir durchs haar fuhren
vaters mund im hintergrund
ahmte das fischsprechen nach

 

Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren

2023 - sieben ausgewählte Gedichte

2022 - neunzehn ausgewählte Gedichte

2021 - zwölf ausgewählte Gedichte

2020 - zwölf ausgewählte Gedichte

2019 - fünfzehn ausgewählte Gedichte

2018 - sechsundzwanzig ausgewählte Gedichte

2017 - dreißig ausgewählte Gedichte

2016 - einunddreißig ausgewählte Gedichte

2015 - sechs ausgewählte Gedichte

2014 - achtzehn ausgewählte Gedichte

2013 - zwölf ausgewählte Gedichte

2012 - sieben ausgewählte Gedichte

2011 - ein ausgewähltes Gedicht

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