Erdwärme

Ein Romanauszug (unveröffentlicht)

Steine

Ein paar steine fehlten bereits, fehlten schon lange, nur hatte es bis dahin keiner bemerkt. Konnte es nicht bemerkt haben, weil der blick in eine andere richtung gelenkt war, nicht auf die steine in der mauer, die unsichtbaren und die sichtbaren, sondern nach westen, nicht nach osten, wo der feind stand. Wir hatten uns gewöhnt an die stacheldrähte, die elektrozäune, die gitter, die mauern, die selbstschussanlagen, die minenfelder. Und die wachtürme waren unsere eigenen wachtürme, die unsere gedanken bewachten. Die grenzen waren unsere eigenen grenzen. Alles war in uns, kam aus uns heraus, um wieder in uns zu verschwinden. Manche hatten ursache und wirkung verwechselt, und so hatten wir, was wir verdient hatten. Aber das ist vorbei. Vorbei?
Und plötzlich, eines tages im november, waren alle steine in der mauer weg. Nicht lange, und die ganze mauer war nicht mehr da. Verschwunden waren die stacheldrähte, die elektrozäune, die gitter, die mauern, die selbstschussanlagen, die minenfelder. Alles war aus uns heraus, um wieder in uns zu verschwinden. Ein paar verwechselten von neuem ursache und wirkung, und nicht lange, und wir hatten wieder, was wir verdient hatten. Aber das ist ... Kein stein blieb auf dem anderen!

Verkehrsprojekt deutsche einheit hatte als überschrift auf dem baustellenschild gestanden, das ich ein paar kilometer zuvor passiert hatte, irgendwo in der gegend von Bayreuth. Ich wunderte mich auf einmal darüber. Hatte ich doch seit langem aufgehört, mich zu wundern, aufgehört, mir fragen zu stellen, die ich mir früher gestellt hatte und die immer die falschen fragen gewesen waren. Ich war nicht der einzige gewesen. Ich hatte im trend gelegen, keine antworten zu suchen, nicht zu fragen, falsche fragen zu fragen und falsche antworten zu erhalten. Ich hatte die situation hin zu nehmen, wie sie war, nicht nach der versprochenen verfassungsreform zu fragen, die längst überfällig, hinfällig war, von der niemand mehr redete, das land hatte andere sorgen, dreizehn jahre nach dem fall der mauer.
Himmelkron, Marktschorgast, Gefrees, Münchberg, Hof: die namen der autobahnausfahrten. Rechts einordnen tempo 100, rechts abbiegen tempo 80, einspuriger baustellenbereich tempo 60 in der überleitung. Und dann bergauf, bergab, weit geschwungene kurve rechts, weit geschwungene kurve links, bergauf, bergab, rechts, links.

Seit dem fall der mauer war ich nicht mehr im osten gewesen, das heißt, so ganz genau stimmte das nicht. Einmal, im mai fünfundneunzig, war ich mit dem auto durch die ehemalige DDR gefahren, die neuen bundesländer, von Nürnberg-Hof kommend über Plauen, Chemnitz, Dresden, Görlitz weiter nach Kattowitz und Krakau. An einer autobahnraststätte im Vogtland hatte ich getankt und bei dieser gelegenheit gleich mittagspause gemacht. Das mobiliar in dem rasthof, die bedienung, das geschirr und das essen hatten alle noch von vor der wende gestammt, nur der belag auf den straßen war neu gewesen: eben, glatt, ohne schlaglöcher.
Früher, vor der wende, war ich öfters drüben gewesen, auf besuch bei verwandten. Heute? Heute fahre ich nicht mehr hin, Süditalien reizt mich mehr.

Wie ich den fall der mauer erlebt hatte? Rotz und wasser hatte ich geheult!
Ich hatte damals im ausland gearbeitet, in der Schweiz. Genau am tag der ersten grenzöffnung war ich mit dem auto unterwegs gewesen, in einem vorort von Bern. In der mittagspause war ich nach hause gefahren. Aus den zwölf-uhr-nachrichten im autoradio hatte ich von der grenzöffnung gehört und sofort am straßenrand gehalten. Die gefühle waren aus mir heraus gebrochen, den ganzen körper hatte es geschüttelt.
Daheim hatte ich zu meiner frau gesagt: du, die mauer ist offen! Sie hatte es erst gar nicht geglaubt. Nach dem essen hatten wir die ein-uhr-nachrichten gehört und alles noch einmal, dass die mauer offen wäre. Abends, in der tagesschau im fernsehen, hatten wir dann die bilder gesehen: wie sie aus dem osten mit ihren Trabbis in den westen gefahren waren und von den menschen im westen gefeiert und beklatscht worden waren. Alle hatten getanzt und gesungen und gelacht und geweint und gerufen: die mauer ist weg!
Ich hatte an meine verwandten gedacht, drüben, ob sie wohl auch dabei waren? Wie lange hatten wir alle auf diesen augenblick gewartet!
Am nächsten tag auf arbeit, im büro, hatte ich erst einmal nichts zu meinen schweizer kollegen gesagt. Zwei slowaken aus Bratislava, die kurz nach dem prager frühling in die Schweiz geflohen waren, hatten sich mit mir gefreut. Die meisten schweizer hatten auf die ereignisse in Deutschland mit angst reagiert und geäußert, dass das wiedervereinte Deutschland zu stark und zu einer gefahr für die nachbarländer, besonders zu einer gefahr für die Schweiz werden könnte. Zwei jahre nach dem mauerfall waren meine frau und ich wieder nach deutschland zurück gekehrt.
Meine verwandten aus dem osten, die nach der wende drüben geblieben waren, hatten mich nie in der Schweiz besucht. Ich hatte sie erst vor vier jahren bei der hochzeit meiner schwester wieder gesehen. Sie hatten mich auch im westen nie besucht, bis heute nicht.

Er stand unauffällig, wenige zig meter links neben der fahrbahn, auf einer anhöhe, bei einer gruppe sträucher in freiem feld. Fast wäre er mir nicht aufgefallen: der ziemlich vollständig erhaltene überrest einer vergangenen zeit, ein schmuckloser grauer betonbau mit quadratischem grundriss, ohne fensterrahmen und -scheiben in den aussparungen. Seine frühere funktion war mir sofort gegenwärtig und warf mich weit zurück in eine zeit, die ich schon längst vergessen geglaubt hatte. Und ich wunderte mich plötzlich, dass ich so ruhig blieb und so selbstverständlich vorbei fahren konnte an dem ehemaligen wachturm, der unauffällig neben der autobahn stand, wenige zig meter links neben der fahrbahn, auf einer anhöhe, bei einer gruppe sträucher in freiem feld. Und er sah aus wie noch in betrieb, wie wenn die mannschaft gerade auf ablösung fort gegangen wäre, und die neue mannschaft noch nicht auf posten.
Ich fuhr langsamer und wartete, dass die straßensperren auftauchten, dass man mir nachschösse, dass die minen hochgingen, über die ich fuhr, dass die grenzer mich stoppten im todesstreifen, im niemandsland. Aber nichts von alledem!

Es ist kalt, sehr kalt, ein wintertag in zeiten des kalten krieges. Ein zug, der interzonenzug, fährt in dieser kälte von west nach ost, ich erinnere mich noch genau, wie wenn es erst gestern war, und ich noch ein kind. Im zug sitzen meine mutter, meine kleine schwester und ich. Wir fahren auf besuch zu verwandten in die zone, wie meine mutter immer sagte. Das erste mal zurück in den osten, seit meine eltern rüber gemacht hatten. Die mauer steht seit drei jahren, meine schwester wurde im westen geboren, vor der mauer, einen monat vor ihrem bau.
Ich spüre genau den geruch des zuges, züge riechen immer so. Ein bisschen nach kaltem zigarettenrauch, nach kunstlederbezügen der sitze, nach toilettenmief, der über die plattformen in die gänge dringt, in die abteile. Nach fußboden, über den viele menschen gegangen sind ... Meine erste große zugfahrt, an die ich mich erinnere.
Und dann fährt der zug langsam, und noch langsamer, bis er schließlich anhält. Und ruckartig wieder anfährt, ein stück rollt und wieder stehenbleibt. Und alle müssen aus dem zug aussteigen mit ihrem gepäck. Die reisenden stehen auf dem bahnsteig, in dieser kälte, es dämmert bereits. Alle schauen, was los ist, wo sie hin müssen, und drum herum stehen männer in uniformen, schmucklosen uniformen. Die männer tragen maschinenpistolen, und da sind schäferhunde, suchhunde, und wachtürme, auf denen männer in uniformen stehen. Mit ferngläsern suchen sie die gegend ab, auch den bahnsteig. Ich sehe zäune, hohe zäune, mit stacheldraht darauf, sehe masten mit scheinwerfern, die die schienen und den bahnsteig anstrahlen, obwohl es noch nicht dunkel ist, nur neblig und grau. Die reisenden müssen in die flachen holzbaracken gehen, auch wir, mit dem gepäck, der reihe nach, einer nach dem anderen, von den wachmännern begleitet. In den baracken werden die ausweise kontrolliert, ich habe schon einen eigenen, einen kinderausweis, und meine kleine schwester ist nur im pass meiner mutter eingetragen. Das visum wird kontrolliert, und meine mutter befragt. Ich schaue durch das fenster nach draußen: der zug auf dem bahnsteig wird von den männern in uniformen und von den schäferhunden durchsucht. Die koffer werden kontrolliert, auch innen, gerade innen, dort sehr genau. Der grenzposten, der unseren koffer durchsucht, entfernt das zeitungspapier, in das die schuhe eingewickelt sind, und gibt es dem zweiten grenzposten. Meine mutter hat angst, auch die anderen reisenden haben angst, ich beobachte alles mit neugier. Die geschenke, die wir unseren verwandten mitbringen wollen, werden ganz genau kontrolliert. Alles dauert sehr lange. Als die kontrollen vorbei sind, dürfen wir wieder hinaus auf den bahnsteig mit unserem gepäck, auch die anderen reisenden kehren auf den bahnsteig zurück. Wir dürfen wieder einsteigen, alle, und man hat die lok gewechselt, eine alte dampflok ist jetzt vor die waggons gespannt, und der zug setzt sich in bewegung und rollt eine weile, bis er richtig fahrt aufnimmt. Ich strecke den kopf aus dem fenster, schaue den zug entlang nach vorne zur lok, die ich in den kurven sehe. Ich schmecke den rauch.
Warum rattern und schlagen die waggons? frage ich mutter, und sie antwortet: weil die schienen alt sind und schlecht aneinander liegen!

Ich schaute in den rückspiegel, war schon lange vorbei an dem wachturm, sah nur landschaft, autobahn, keine grenze. Und der wachturm war der wachturm, war nicht der wachturm, der meine gedanken bewacht hatte, der die grenze bewacht hatte und wieder nicht, die meine eigene grenze gewesen war, sie nicht gewesen war. Alles war in mir gewesen, aus mir heraus gekommen und wieder in mir verschwunden. Ein übrig gebliebener, schmuckloser grauer betonbau.
Wo war die wachmannschaft? Wohin waren die offiziere gegangen, die der mannschaft befohlen hatten? Kein stein war auf dem anderen geblieben. Ich fuhr weiter auf der A 72 in richtung osten.

Es ist kalt, ein kalter wintertag. Eine frau sitzt im zug, der von ost nach west fährt. Bei sich hat sie ihr kleines kind, ein säugling noch. Alles ist vorbereitet und genau durchdacht. Es gibt nichts, das sie im osten hält. Die frau ist im besitz einer erlaubnis zum besuch ihres bruders, sie hat ein visum für sich und ihr baby. Sie wird die rückfahrkarte nicht mehr brauchen und erst einmal für eine weile bei ihrem bruder bleiben, bis sie eine arbeit und eine wohnung im westen gefunden hat.
Ihr mann wird wenig später über Berlin nachkommen. Er wird im ostsektor der stadt in die s-bahn steigen und im westsektor aussteigen. Ja, gefährlich ist es schon, es ist nicht erlaubt. Die bahnhöfe werden kontrolliert. Man muss aufpassen, dass man nicht erwischt wird und ins gefängnis kommt, es ist republikflucht. Aber alles geht gut.
Später, beim bau der mauer werden sich die frau und der mann an ihre flucht erinnern. Dann werden sie froh sein über ihren schritt. Als flüchtlinge werden sie nie anerkannt werden, sie waren nicht verfolgt gewesen. Sie hätten genauso gut drüben bleiben können, es gab keinen grund zum weggehen, ihr leben war nicht bedroht, werden sie während des antragsverfahrens auf den behörden zu hören bekommen.

Und die autobahn führte mich weiter auf meiner reise, vorbei an Plauen, Zwickau, Chemnitz, Dresden. Wilde Sau, Wilder Mann, Dresden Flughafen, dann nach norden auf der A 13, richtung Berlin, und rechts hinter den kiefern- und birkenwäldern tauchte der erste tagebau auf, man sah nur die obere spitze des auslegers, ahnte nur den dazu gehörigen, riesigen bagger und das gigantisch große loch, in dem er stand. Neben der autobahn lagen die stahlrohre für das viele wasser, das weg muss aus dem loch, und am himmel der formationsflug von kranichen, die nach süden zogen, in wärmere gefilde. Dreieck Spreewald war erreicht, rechts einordnen tempo 100, rechts abbiegen tempo 80 in der überleitung. Irgendwo links in der ferne musste der Spreewald liegen.Und nicht lange, da tauchte der nächste tagebau auf, diesmal ganz nahe der autobahn. Davor, in freiem feld, der neu errichtete nachbau einer slawenburg, sie war noch nicht eröffnet, wie ich später erfuhr. Die autobahn in richtung Polen war fast leer, mein ziel Cottbus ganz nah.

© 2024 Werner Weimar-Mazur